StGH 2023/012 Der Staatsgerichtshof als Verfassungsgerichtshof hat in seiner nicht-öffentlichen Sitzung vom 14. März 2023, an welcher teilnahmen: Präsident Dr. Hilmar Hoch als Vorsitzender; stellvertretender Präsident lic. iur. Christian Ritter, Prof. Peter Bussjäger, lic. iur. Marco Ender und Prof. August Mächler als Richter sowie Dr. Robin Schädler als Schriftführer in der Beschwerdesache Beschwerdeführer: | A
vertreten durch:
*** |
Belangte Behörde: | Fürstliches Obergericht, Vaduz |
gegen: | Beschluss des Obergerichtsvom 11. Januar 2023, 03 ES.2022.69-42 |
wegen: | Verletzung verfassungsmässig und durch die EMRK gewährleisteter Rechte (Streitwert: CHF 5‘000.00) |
zu Recht erkannt: 1. | Der Individualbeschwerde wird Folge gegeben. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Beschluss des Fürstlichen Obergerichts vom 11. Januar 2023, 03 ES.2022.69-42, in seinen verfassungsmässig und durch die EMRK gewährleisteten Rechten verletzt. |
2. | Das angefochtene Urteil des Fürstlichen Obergerichts vom 11. Januar 2023, 03 ES.2022.69-42, wird aufgehoben und die Rechtssache unter Bindung an die Rechtsansicht des Staatsgerichtshofes zur neuerlichen Entscheidung an das Obergericht zurückverwiesen. |
3. | Das Land Liechtenstein ist schuldig, dem Beschwerdeführer die Kosten seiner Vertretung von CHF 959.60 binnen vier Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. |
4. | Die Landeskasse hat dem Beschwerdeführer die mit Valuta vom 3. März 2023 bereits bezahlten Gerichtsgebühren von CHF 600.00 zurückzuerstatten. |
SACHVERHALT | 1. | Im Strafverfahren vor dem Einzelrichter zu 03 ES.2022.69 verurteilte das Landgericht mit dem anlässlich der Schlussverhandlung vom 25. Oktober 2022 mündlich verkündeten Urteil A (Beschwerdeführer) wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe und zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens sowie zur Bezahlung von Schadenersatz an den Privatbeteiligten B. | | Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung gab der unvertretene Angeklagte keine Rechtsmittelerklärung ab. |
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| 2. | In seiner an die E-Mail-Adresse des Landrichters gesendeten E-Mail vom 28. Oktober 2022 (ON 24) führte der Beschwerdeführer aus: „Hiermit gebe ich Bescheid, dass ich mit dem Urteil nicht einverstanden bin und eine schriftliche Urteilsbegründung anfordere.“ Daraufhin wurde dem Beschwerdeführer vom Landrichter am 3. November 2022 eine schriftliche Urteilsausfertigung zugestellt. |
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| 3. | Mit Schriftsatz seiner inzwischen mandatierten Verteidigerin vom 17. November 2022 (ON 31) erstattete der Beschwerdeführer eine schriftliche Berufungsausführung. | | In ihrer zu dieser Berufungsausführung erstatteten Gegenäusserung vom 1. Dezember 2022 (ON 37) beantragte die Staatsanwaltschaft u. a., das Obergericht wolle die Berufung des Beschwerdeführers als nicht gesetzmässig angemeldet verwerfen. |
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| 4. | Das Obergericht wies die Berufung des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 11. Januar 2023 (ON 42) zurück. Diese Entscheidung wurde wie folgt begründet: | | 4.1 | Gemäss § 222 Abs. 1 StPO habe die Berufungsanmeldung bei sonstigem Verlust des Berufungsrechts binnen vier Tagen nach Urteilsverkündigung entweder mündlich zu Protokoll beim Landgericht oder schriftlich zu erfolgen. |
| | 4.2 | Das E-Mail des Beschwerdeführers vom 28.10.2022 (ON 24) sei zwar inhaltlich wohl als Berufungsanmeldung zu werten, die auch innerhalb der erwähnten Viertagesfrist erfolgt sei; allerdings vermöge sie dem Erfordernis der „Schriftlichkeit“ nicht zu genügen. Eine Anmeldung der Berufung per E-Mail sei vielmehr nicht zulässig und prozessual unbeachtlich (ö-OGH 14 Os 51/12z SSt 2012/23; RIS-Justiz RS0127859 [insb. T 3]; Nimmervoll, Das Strafverfahren2, S. 108, Rz. 402; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens [2017], Rz. 1.227; vgl. auch: M. Schneider/Gottwald in Fasching/Konecny3, II/2 ZPO, § 74 Rz. 69). |
| | 4.3 | Der gegenteiligen Ansicht von Ungerank in Brandstätter/Nagel/Ungerank/Öhri, HBLieStrPR Rz 2.189, schliesse sich der 3. Senat des Obergerichts explizit nicht an. [Es folgt hierfür eine ausführliche, für die Beurteilung des Beschwerdefalls durch den Staatsgerichtshof aber nicht relevante Begründung.] |
| | 4.4 | Da somit von einer wirksamen Berufungsanmeldung des Beschwerdeführers nicht ausgegangen werden könne, weil diese bloss per E-Mail erfolgt sei, sei der Beschwerdeführer gemäss § 222 Abs. 1 StPO seines Berufungsrechtes verlustig gegangen. Mit Bezug auf die mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 17.11.2022 (ON 31) ausgeführte Berufung fehle es dem Beschwerdeführer daher an der erforderlichen Rechtsmittellegitimation, weshalb dessen Berufung der Zurückweisung zu verfallen habe, und zwar gemäss § 226 Abs. 1 Ziff. 1 StPO bereits in nichtöffentlicher Sitzung und mit Beschluss (Brandstätter/Nagel/Öhri/Ungerank, HBLieStrPR, Rz 15.233). |
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| 5. | Gegen diesen Beschluss des Obergerichts erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 13. Februar 2023 Individualbeschwerde an den Staatsgerichtshof, wobei eine Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus, des Grundsatzes von Treu und Glauben, des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 31 Abs. 1 LV) sowie des Willkürverbots geltend gemacht wird. Beantragt wird, der Staatsgerichtshof wolle der gegenständlichen Individualbeschwerde Folge geben und feststellen, dass der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Beschluss des Obergerichts in seinen verfassungsmässig und durch internationale Übereinkommen gewährleisteten Rechten verletzt worden sei; er wolle die genannte Entscheidung deshalb aufheben und unter Bindung an die Rechtsansicht des Staatsgerichtshofes zur neuerlichen Entscheidung an das Obergericht zurückverweisen sowie das Land Liechtenstein zum Ersatz der gesamten Verfahrenskosten des Beschwerdeführers zuhanden seiner ausgewiesenen Rechtsvertreterin binnen 4 Wochen bei sonstiger Exekution verpflichten. | | Auf die Ausführungen in dieser Individualbeschwerde wird, soweit relevant, im Rahmen der Urteilsbegründung eingegangen. |
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| 6. | Die Staatsanwaltschaft wie auch das Obergericht verzichteten mit Schreiben vom 16. Februar 2023 bzw. 28. Februar 2023 auf eine Stellungnahme zur Individualbeschwerde. |
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| 7. | Der Staatsgerichtshof zog die Vorakten, soweit erforderlich, bei und beschloss infolge Spruchreife, auf die Durchführung einer öffentlichen Schlussverhandlung zu verzichten. Nach Durchführung einer nicht-öffentlichen Schlussverhandlung wurde wie aus dem Spruch ersichtlich entschieden. |
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BEGRÜNDUNG | 1. | Der im Beschwerdefall angefochtene Beschluss des Obergerichts vom 11. Januar 2023, 03 ES.2022.69-42, ist gemäss der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes als sowohl letztinstanzlich als auch enderledigend im Sinne von Art. 15 Abs. 1 StGHG zu qualifizieren (StGH 2018/128, Erw. 1; StGH 2018/091, Erw. 1; StGH 2018/063, Erw. 1 [alle www.gerichtsentscheide.li]). Da die Beschwerde auch frist- und formgerecht eingebracht wurde, hat der Staatsgerichtshof materiell darauf einzutreten. |
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| 2. | Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben, weil bei ihm aufgrund seines E-Mail-Verkehrs mit dem Landgericht eine grundrechtlich geschützte Vertrauensposition geschaffen worden sei. | | 2.1 | Der Grundsatz von Treu und Glauben ist zwar nur für das Zivilrecht explizit normiert (siehe jeweils Art. 2 Abs. 1 des Personen- und Gesellschaftsrechts sowie des Sachenrechts), doch gelten Treu und Glauben und der daraus abgeleitete Vertrauensschutz auch für das öffentliche Recht. Der Staatsgerichtshof leitet den Grundsatz von Treu und Glauben primär aus dem Willkürverbot, mitunter auch aus dem Gleichheitssatz von Art. 31 Abs. 1 LV ab. Beispielsweise verletzt die Nichteinhaltung spezifischer behördlicher Zusicherungen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn im Vertrauen auf die Zusicherung wesentliche irreversible Dispositionen getroffen wurden (StGH 2019/008, LES 2020, 1 [5, Erw. 3.1]; StGH 2018/041, Erw. 4.2; StGH 2017/087, Erw. 3.2 [alle www.gerichtsentscheide.li]). | | Zur Schaffung einer speziellen Vertrauensgrundlage ist nicht zwingend eine explizite behördliche Zusicherung erforderlich (vgl. Andreas Kley/Hugo Vogt, Rechtsgleichheit und Grundsatz von Treu und Glauben, in: Kley/Vallender [Hrsg.], Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, 294 f., Rz. 88). Einen Anspruch auf Vertrauensschutz begründet auch ein bestimmtes Verhalten, in spezifischen Fällen auch eine Untätigkeit der Behörde. Es muss eine Gesamtbetrachtung dahingehend erfolgen, ob die betroffene Person unter Berücksichtigung aller Umstände das behördliche Verhalten im Sinne einer spezifischen Zusage deuten durfte (StGH 2019/015, Erw. 6.1; StGH 2017/128, Erw. 4.1; StGH 2012/162, Erw. 2.1 [alle www.gerichtsentscheide.li]). |
| | 2.2 | Der Beschwerdeführer zitiert zunächst ein an die Sekretärin des zuständigen Landrichters gerichtetes E-Mail, mit dem er noch am Verhandlungstag um Erläuterungen zum gegen ihn ausgesprochenen Urteil ersuchte. Tags darauf, am 26. Oktober 2022, führte der zuständige Landrichter in seinem Antwort-E-Mail Folgendes aus: „Ich habe das Urteil gestern eingehend erklärt und Ihnen auch mitgeteilt, dass Sie 4 Tage Bedenkzeit haben und erst dann einen Urteilsvermerk oder bei einer Berufungsanmeldung eine Urteilsausfertigung mit Begründung erhalten.“ Im Weiteren erläuterte der Landrichter noch einmal die wesentlichen Punkte des Urteils. Darauf erwiderte der Beschwerdeführer mit E-Mail vom 28. Oktober 2022 wie folgt: „Hiermit gebe ich Bescheid, dass ich mit dem Urteil nicht einverstanden bin und eine schriftliche Urteilsbegründung anfordere.“ Wie im Sachverhalt ausgeführt, stellte darauf der Landrichter dem Beschwerdeführer am 3. November 2022 eine schriftliche Urteilsausfertigung zu. | | Der Beschwerdeführer weist weiter darauf hin, dass er am Tag nach seiner elektronischen Berufungsanmeldung, also am 29. Oktober 2022, immer noch die Möglichkeit gehabt hätte, eine schriftliche Berufungsanmeldung nachzureichen, wenn ihn der Landrichter über dieses Schriftlichkeitserfordernis umgehend informiert hätte. |
| | 2.3 | Hierzu ist Folgendes zu erwägen: | | 2.3.1 | Wie in Erwägung 2.1 erwähnt, kann eine grundrechtlich relevante Vertrauensposition auch dann entstehen, wenn die betroffene Person ein behördliches Verhalten unter Berücksichtigung aller Umstände im Sinne einer spezifischen Zusage deuten durfte. Diese Voraussetzung ist im Beschwerdefall erfüllt - ebenso wie die weiteren Voraussetzungen für die Schaffung einer grundrechtlich relevanten Vertrauensposition. |
| | 2.3.2 | Der zuständige Landrichter war offensichtlich selbst der Auffassung, dass eine elektronische Berufungsanmeldung den Formerfordernissen genügt, da er infolge des E-Mails des Beschwerdeführers vom 28. Oktober 2022 das Urteil ohne Weiteres ausfertigte und diesem zustellte. Der Beschwerdeführer durfte davon ausgehen, dass ihn der Landrichter umgehend informiert hätte, falls dieses E-Mail keine rechtswirksame Berufungsanmeldung darstellte, damit er am darauffolgenden Tag noch rechtzeitig eine schriftliche Berufungsanmeldung hätte nachreichen können. Damit ist auch schon gesagt, dass der Beschwerdeführer im Vertrauen auf das Verhalten des Landrichters eine unwiderrufliche Disposition traf, indem er die viertägige Frist für die Berufungsanmeldung ohne Nachreichung einer schriftlichen Berufungsanmeldung verstreichen liess. |
| | 2.3.3 | Damit liegen alle Voraussetzungen für die Schaffung einer grundrechtlich geschützten Vertrauensposition vor. Diese ist auch für andere Behörden wie hier das Obergericht verbindlich - unabhängig davon, ob diese die Rechtsauffassung des Landgerichts teilen. Entsprechend ist es für die Entscheidung des Beschwerdefalles nicht erforderlich, auf die vom Obergericht vertretene, von derjenigen des Landrichters und der liechtensteinischen Literatur abweichende Rechtsauffassung einzugehen. |
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| | 2.4 | Somit verletzt der angefochtene Beschluss des Obergerichts den Grundsatz von Treu und Glauben. |
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| 3. | Bei diesem Ergebnis ist auf die weiteren Rügen nicht einzugehen. Der Individualbeschwerde ist somit spruchgemäss Folge zu geben, die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben und an das Obergericht zurückzuverweisen zur neuerlichen Entscheidung unter Bindung an die Rechtsansicht des Staatsgerichtshofes. |
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| 4. | Dem Beschwerdeführer sind die in seiner Individualbeschwerde vom 13. Februar 2023 verzeichneten Vertretungskosten antragsgemäss zuzusprechen. | | Da im Individualbeschwerdeverfahren vor dem Staatsgerichtshof nach ständiger Praxis des Staatsgerichtshofes (StGH 2020/076, Erw. 8; StGH 2019/035, Erw. 5; StGH 2018/071, Erw. 4 [alle www.gerichtsentscheide.li]) die Gerichtsgebühren von der obsiegenden Partei nicht zu tragen sind, sind dem Beschwerdeführer die mit Valuta vom 03. März 2023 bereits an die Landeskasse geleisteten Gerichtsgebühren von CHF 600.00 zurückzuerstatten. |
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Dieses Urteil ist endgültig. Vaduz, den 14. März 2023 Der Präsident: Dr. Hilmar Hoch |