StGH 2023/024
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04.09.2023
StGH
Urteil
Sprüche: - nicht vergeben -
StGH 2023/024
Der Staatsgerichtshof als Verfassungsgerichtshof hat am 4. September 2023 nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und anschliessender nicht-öffentlicher Beratung und Abstimmung, an welcher teilnahmen: Stellvertretender Präsident lic. iur. Christian Ritter als Vorsitzender; Prof. August Mächler als Richter; Mag. iur. Franziska Goop-Monauni, Mag. iur. Michael Kranz und Prof. Benjamin Schindler als ErsatzrichterInnen sowie Dr. Tobias Wille als Schriftführer
in der Beschwerdesache
Beschwerdeführerin:
A


vertreten durch:

***
Interessierte Partei:
Regierung des Fürstentums Liechtenstein
9490 Vaduz
Belangte Behörde:Landtag des Fürstentums Liechtenstein
9490 Vaduz
gegen:Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 19. Dezember 2012 (GOLT), LGBl. 2013 Nr. 9 i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410
wegen:Verletzung verfassungsmässig und
durch die EMRK gewährleisteter Rechte
(Streitwert: CHF 20'000.00)
zu Recht erkannt:
1.Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 19. Dezember 2012, LGBl. 2013 Nr. 9 i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410, ist verfassungs- und EMRK-widrig und wird aufgehoben.
2.Ziffer 1 des Urteilsspruches ist von der Regierung gemäss Art. 17 Abs. 2 i. V. m. Art. 21 Abs. 3 und 19 Abs. 3 StGHG unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.
3.Der Individualbeschwerde wird Folge gegeben. Die Beschwerdeführerin ist durch Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 19. Dezember 2012, LGBl. 2013 Nr. 9 i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410, in ihren verfassungsmässig und durch die EMRK gewährleisteten Rechten verletzt.
4.Das Land Liechtenstein ist schuldig, der Beschwerdeführerin die Kosten ihrer Vertretung in Höhe von CHF 4‘009.13 binnen vier Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
5.Die Landeskasse hat der Beschwerdeführerin die mit Valuta vom 5. April 2023 bereits bezahlten Gerichtsgebühren von CHF 1‘700.00 zurückzuerstatten.
SACHVERHALT
1.
Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
2.
Für die Landtagswahl vom 7. Februar 2021 wurde A (Beschwerdeführerin) mit der Wählerliste „Freie Liste“ im Wahlkreis Oberland zur Wahl aufgestellt. Sie erhielt an der Wahl mit 14.7 % der Stimmen die dritthöchste Stimmenzahl von allen Kandidierenden ihrer Wahlliste, weshalb sie zur stellvertretenden Abgeordneten erklärt und in der Landtagssitzung vom 25. März 2021 zusammen mit den anderen Abgeordneten vereidigt wurde. Am 27. August 2021 trat die Beschwerdeführerin A aus der Partei „Freie Liste“ aus ohne dabei, nach dem von ihr vertretenen Standpunkt, aus der Wählergruppe „Freie Liste“ auszutreten.
3.
Am 30. August 2021 wurde die Beschwerdeführerin als Stellvertretung der Freien Liste für die Landtagssitzung vom 3. September 2021 durch deren verhinderten ordentlichen Abgeordneten B angemeldet. Gemäss Pressemitteilung vom 1. September 2021 wurde die Beschwerdeführerin durch das Landtagspräsidium für die vorgesehene Landtagssitzung vom 3. September 2021 mit der Begründung ausgeschlossen, dass sie im Zusammenhang mit dem Austritt aus der Freien Liste verfassungsmässig nicht mehr berechtigt sei, als stellvertretende Abgeordnete ihre Funktion auszuüben. Mit der Begründung stützte sich das Landtagspräsidium auf die Ansicht des Rechtsdiensts der Regierung.
4.
Im Schreiben des Fraktionssprechers der Freien Liste vom 26. September 2021 wurde in Bezug auf die Stellungnahme des Rechtsdiensts der Regierung und der Pressemitteilung vorgebracht, dass der Fraktion der Freien Liste bei der Ernennung der Beschwerdeführerin als Stellvertretung nicht bekannt war, dass diese - gemäss der Stellungnahme des Rechtsdiensts der Regierung - die Voraussetzungen nicht mehr erfülle, um als stellvertretende Abgeordnete für B Einsitz zu nehmen. Damit bat der Fraktionssprecher der Freien Liste darum, dass aufgrund der aktuellen Rechtsauslegung C als stellvertretender Abgeordneter für den verhinderten Abgeordneten bestellt werde.
5.
Zur gleichen Zeit forderte die Beschwerdeführerin über ein Schreiben durch ihre Rechtsvertretung das Landtagspräsidium auf, die Beschlussfassungen von der Landtagssitzung des 3. September 2021 zu widerrufen und sie zukünftig zur Teilnahme an den Landtagssitzungen als stellvertretende Abgeordnete zuzulassen. Das Landtagspräsidium - sowie mit Schreiben vom 29. September 2021 auch der gesamte Landtag - wurden dabei von der Beschwerdeführerin bzw. ihrer Rechtsvertretung darauf hingewiesen, dass ein solcher Ausschluss verfassungswidrig sei und es nicht am Landtagspräsidium liege, darüber zu entscheiden, wer als Abgeordneter Einsitz in den Landtag nehmen dürfe. Diese Entscheidung obliege dem Volk alleine.
6.
Mit Beschluss des Landtags in seiner Sitzung vom 29. September 2021 bestätigte dieser die Unzuständigkeit des Landtags betreffend die Frage, ob ein stellvertretendes Mitglied sein Mandat nach Parteiaustritt behalte.
7.
Am 18. November 2021 teilte der Fraktionssprecher der Freien Liste dem Landtagspräsidium mit, dass sich die Fraktionsmitglieder der Freien Liste mit der stellvertretenden Abgeordneten A darauf verständigt hätten, dass diese die ordentlichen Abgeordneten der Fraktion im Verhinderungsfall vertrete und im Landtag Einsitz nehme. A werde dazu von der Fraktion nach Art. 23 GOLT aufgeboten werden. Die Betroffene (Beschwerdeführerin) habe im Gespräch vom 11. November 2021 erklärt, dem Verein Freie Liste - im damaligen Zeitpunkt - nicht wieder als Mitglied beitreten zu wollen, doch sehe sie sich weiter als Mitglied der Wählergruppe der Freien Liste.
8.
Am 26. November 2021 äusserte die Regierung in einem Schreiben an das Landtagspräsidium ihre Bedenken betreffend der Einsitznahme der parteilosen stellvertretenden Abgeordneten in den Landtagssitzungen, da diese nicht verfassungskonform sei. Trotz Beschluss des Landtags über seine Unzuständigkeit betreffend die Frage, ob A ihr Mandat beibehalten könne, sei ihre Einsitznahme an einer Landtagssitzung nicht gestattet.
9.
In der darauffolgenden Sitzung vom 20. Dezember 2021 des Landesausschusses wurde ein unabhängiges Gutachten des Liechtenstein-Instituts zur Frage „Parteiaustritt einer stellvertretenden Abgeordneten und deren Rechtsfolgen“ in Auftrag gegeben, welches im Februar 2022 eingelangt ist. Dieses kam zum Ergebnis, dass die Einsitznahme der parteilosen stellvertretenden Abgeordneten nicht verfassungswidrig sei.
10.
Der Landtag beschloss darauf in seiner Sitzung vom 11. März 2022, dass dieser mit der Besetzung der Beschwerdeführerin ordnungsgemäss besetzt sei.
11.
Auf Initiative des Landtagspräsidiums wurde am 1. Dezember 2022 eine Änderung des Art. 23 Abs. 2 Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein (GOLT), LGBl. 2013 Nr. 9, vorgenommen. Der Art. 23 Abs. 2 GOLT lautete bis dahin wie folgt:
„2) Für das verhinderte Mitglied hat dessen Fraktion gemäss Art. 49 der Verfassung einen Stellvertreter im Sinne von Art. 46 Abs. 2 der Verfassung zu bezeichnen.“
Mit der Änderung des Art. 23 Abs. 2 GOLT durch LGBl. 2022 Nr. 410, kundgemacht am 20. Dezember 2022, lautet dieser in der aktuellen Fassung wie folgt:
„2) Für das verhinderte Mitglied kann dessen Wählergruppe gemäss Art. 49 der Verfassung einen Stellvertreter im Sinne von Art. 46 Abs. 2 der Verfassung bezeichnen.“
12.
Mit der Änderung wurde der Wortlaut der Bestimmung insofern umgewandelt als der Begriff „hat“ durch den Begriff „kann“ und der Begriff „Fraktion“ durch den Begriff „Wählergruppe“ ersetzt wurde. Am 1. März 2023 trat der geänderte Art. 23 Abs. 2 GOLT in Kraft.
13.
Mit Schriftsatz vom 29. März 2023 erhob die Beschwerdeführerin gegen Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein, LGBl. 2013 Nr. 9 i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410, Individualbeschwerde gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG wegen Verletzung verfassungsmässiger und durch die EMRK garantierter Rechte beim Staatsgerichtshof. Konkret macht sie eine Verletzung der politischen Rechte im Sinne der Art. 29 und Art. 46 LV, des Rechts auf freie Wahlen gemäss Art. 3 1. ZP EMRK, des Gleichbehandlungssatzes gemäss Art. 31 Abs. 1 LV sowie des Willkürverbots geltend. Beantragt wird die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein. Sodann sei der Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein als verfassungswidrig aufzuheben. Dies unter Kostenfolgen für das Land.
Ihre Individualbeschwerde begründet die Beschwerdeführerin im Wesentlichen wie folgt:
13.1
Die Beschwerdeführerin betrachtet die Anforderungen an die Zulässigkeit der Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG als erfüllt. Dazu führt sie aus wie folgt:
13.1.1
Bei der bekämpften Rechtsnorm, Art. 23 Abs. 2 GOLT, durch welche sich die Beschwerdeführerin in ihren verfassungsmässigen und durch die EMRK gewährleisteten Rechte verletzt betrachte, handle es sich um eine Bestimmung mit normativem und gesetzähnlichem Charakter. Entsprechend sei die Geschäftsordnung des liechtensteinischen Landtags einer Individualbeschwerde gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG zugänglich.
13.1.2
Das Inkrafttreten des geänderten Artikels der GOLT habe unmittelbar zur Folge, dass eine Wählergruppe bei Verhinderung einer ihrer Abgeordneten keinen stellvertretenden Abgeordneten mehr aufzubieten hätte im Sinne eines „Müssens“ - so wie noch die Vorgängerbestimmung lautete - sondern dies nunmehr könne. Künftig sei es so der Wählergruppe überlassen, selbst zu bestimmen, ob eine Stellvertretung aufgeboten werde oder nicht. Folglich sei durch die angefochtene Norm eine Ermessensbefugnis für die Wählergruppe geschaffen worden. Durch deren Inkrafttreten seien die stellvertretenden Abgeordneten vollständig der Gunst ihrer Wählergruppe ausgeliefert. Dies stelle sich für stellvertretende Abgeordnete, die aus ihrer Partei ausgetreten seien, als besonders nachteilig heraus, da sie aufgrund des Austritts meistens die Gunst ihrer früheren Parteimitglieder verloren hätten.
13.1.3
Durch die Änderung der GOLT sei die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin unmittelbar geschwächt und entwertet worden. Mit Inkrafttreten der angefochtenen Norm erführen die stellvertretenden Abgeordneten nun ein unmittelbares „Minus“ in ihrer Rechtsposition. Wo die Beschwerdeführerin als stimmenstärkste stellvertretende Abgeordnete der Freien Liste im Zuge eines Aufbietungsautomatismus noch das Recht gehabt habe, im Verhinderungsfall als Stellvertreterin aufgeboten zu werden, sei sie neu dem Gutdünken ihrer Wählergruppe ausgeliefert.
13.1.4
Mit dem angefochtenen Art. 23 Abs. 2 GOLT würde das Institut des stellvertretenden Abgeordneten ein Stück weit ausgehöhlt. Denn sofern im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten keine Stellvertretung mehr aufgeboten werden müsse und diese auch nicht aufgeboten werde, könne die Stellvertretung mangels Teilnahme an den Landtagssitzungen ihre durch das Wahlvolk bewusst zuerkannten Rechte und Pflichten im Rahmen der Landtagssitzungen nicht mehr wahrnehmen und das Wahlvolk nicht mehr vertreten. Dies beträfe jedoch gerade den Kern des politischen Handelns der stellvertretenden Abgeordneten. Denn auch sie seien direkt vom Volk gewählte Repräsentanten in der politischen Willensbildung.
13.1.5
Die Beschwerdeführerin sei stellvertretende Abgeordnete für die ordentlichen Abgeordneten ihrer Wählergruppe Freie Liste, welche gleichzeitig Mitglieder ihrer ehemaligen Partei seien. Durch die Änderung des Art. 23 Abs. 2 GOLT sei sie daher persönlich in ihren rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt. Die neue Bestimmung stelle keine bloss potenzielle, sondern eine tatsächliche Beeinträchtigung dieser Interessen dar, da die Beschwerdeführerin seit deren Inkrafttreten immer fürchten müsse, nicht als stellvertretende Abgeordnete aufgeboten zu werden. Dass ihre ehemalige Partei dies im Verhinderungsfall auch nicht tun würde, habe diese in ihrem Schreiben vom 26. September 2021 klargemacht.
13.1.6
Letztlich stünden der Beschwerdeführerin auch keine anderweitige Beschwerdemöglichkeiten gegen die angefochtene Norm zur Verfügung. Hinsichtlich der Gewichtung der Rechtsfolge, welche durch die Abänderung des Art. 23 Abs. 2 GOLT für stellvertretende Abgeordnete zu tragen käme, sei es nicht zumutbar, abzuwarten, bis sie im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten für eine Landtagssitzung nicht aufgeboten würde. Es sei daher unabdingbar, den neuen Art. 23 Abs. 2 GOLT unmittelbar mittels Normenkontrollverfahren zu prüfen und aufzuheben.
13.2
Sodann äussert sich die Beschwerdeführerin zur gerügten Verletzung ihrer verfassungsmässigen und durch die EMRK gewährleisteten Rechte. Sie erachtet zunächst ihre politischen Rechte (Art. 29 und Art. 46 LV) und ihr Recht auf freie Wahlen (Art. 3 1. ZP EMRK) aus den nachstehenden Gründen als verletzt:
13.2.1
Art. 53 LV verpflichte Abgeordnete, an Landtagssitzungen persönlich zu erscheinen, und normiere, dass bei Verhinderung unter Angabe des Hinderungsgrundes rechtzeitig die Anzeige an den Präsidenten zu erstatten sei. In Ergänzung dazu regle Art. 49 Abs. 4 LV, dass die stellvertretenden Abgeordneten bei Behinderung eines Abgeordneten ihrer Wählergruppe an einzelnen oder mehreren aufeinanderfolgenden Sitzungen in Stellvertretung des verhinderten Abgeordneten mit Sitz und Stimme teilzunehmen „haben“.
13.2.2
Ebenso zugehörig zu diesem Regelungskomplex sei die Anwesenheitspflicht in Art. 22 GOLT. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung sei jedes Mitglied des Landtages verpflichtet, an den Sitzungen teilzunehmen. Vorbehalten bleibe eine Teilnahmeverhinderung aus wichtigem Grund. Der Wortlaut von Art. 22 aGOLT zeige, dass stellvertretende Abgeordnete, die zu einer Landtagssitzung eingeladen würden, genauso wie ordentliche Abgeordnete an dieser teilnehmen müssten. Seien sie an der Teilnahme verhindert, müssten sie dies gemäss Art. 23 Abs. 1 GOLT dem Landtagspräsidenten mitteilen. Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 aGOLT, wonach die Fraktion für das verhinderte Mitglied einen Stellvertreter zu bezeichnen habe, habe diese beiden Bestimmungen passend ergänzt.
13.2.3
Sinn und Zweck der Stellvertretung sei, dass allen Wählergruppen das gleiche Recht zugestanden werden müsse, um ihre Stimmkraft zu erhalten, falls ein Abgeordneter verhindert sein sollte, damit eben keine sachlich unbegründeten Unterschiede zwischen grossen und kleinen Wählergruppen aufkämen. Somit sei der Kern der Tätigkeit von stellvertretenden Abgeordneten das kurzfristige Vertreten von verhinderten ordentlichen Abgeordneten.
13.2.4
Der bestehende gesetzliche Rahmen werde nunmehr ausgehebelt und damit die bisher normierte Pflicht zur Bekanntgabe eines Stellvertreters im Verhinderungsfall, welche durch das Wort „hat“ in Art. 23 Abs. 2 aGOLT in Verbindung mit Art. 49 Abs. 4 LV klar verfassungsmässig normiert gewesen sei. Daran ändere auch die Praxis, dass im Verhinderungsfall nicht immer ein stellvertretender Abgeordneter aufgeboten worden sei, nichts und könne nicht so ausgelegt werden, dass die Bestimmung in Art. 23 Abs. 2 aGOLT lediglich als reine Kann-Bestimmung zu verstehen sei. Stattdessen habe man sich in diesen Fällen einfach nicht an die ausdrückliche Bestimmung der GOLT gehalten und diese verletzt. Es sei nicht so, dass eine Regel ihren Bedeutungsgehalt ändere, je öfter diese Regel gebrochen werde.
13.2.5
Durch die „Kann-Bestimmung“ habe die Beschwerdeführerin als freie Abgeordnete de facto keine Chance mehr, ihren Wählerauftrag zu erfüllen und sie sei so in ihrem passiven Wahlrecht verletzt. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass wohl keine Partei freiwillig einen Stellvertreter aufbieten werde, der aus der Partei ausgetreten sei. Das Recht der stellvertretenden Abgeordneten nach ihrer Wahl an Landtagssitzungen als stellvertretende Abgeordnete teilzunehmen, das ihnen im gleichen Ausmass zustehe, wie den ordentlichen Abgeordneten, werde durch die Änderungen der GOLT de facto ausgehebelt.
13.3
Die Beschwerdeführerin erachtet im Weiteren den Gleichbehandlungssatz (Art. 31 Abs. 1 LV) aus den folgenden Gründen als verletzt:
13.3.1
Immer dann, wenn Verfassung und Gesetz von „den Abgeordneten“ oder „den Mitgliedern des Landtages“ sprächen, seien sowohl die ordentlichen als auch die stellvertretenden Abgeordneten gemeint. Es sei bereits erläutert worden, dass noch dazu die Verfassung in den Art. 53 und 49 Abs. 4 LV ausdrücklich die Gleichbehandlung der ordentlichen und stellvertretenden Abgeordneten proklamiere.
13.3.2
Durch die neu eingeführte Ermessensbefugnis würden parteilose stellvertretende Abgeordnete in eine schwächere Position gedrängt, als jene stellvertretenden Abgeordneten, die nicht aus der Partei ausgetreten seien. Auf Grund des Bruches, der mit dem Parteiaustritt unvermeidbar sein werde, würde ein parteiloser stellvertretender Abgeordneter de facto nicht mehr als Stellvertreter seiner alten Partei aufgeboten werden und so, anders als der nicht aus der Partei ausgetretene stellvertretende Abgeordnete, keine Chance mehr haben, den Wählerauftrag zu erfüllen. Dadurch, dass nunmehr der bisher geltende Automatismus abgeschafft und stattdessen der Wählergruppe eine Entscheidungsbefugnis diesbezüglich eingeräumt werde, seien die parteilosen stellvertretenden Abgeordneten vollständig den ehemaligen Parteimitgliedern ausgeliefert.
13.4
Die Beschwerdeführerin macht schliesslich die Verletzung des Willkürverbots geltend, weil die Bestimmung in der Rechtsanwendung zu einer folgenschweren Ungleichbehandlung zwischen parteilosen stellvertretenden Abgeordneten und jenen, die aus ihrer Partei nicht ausgetreten seien, führen würde, mit dem Ergebnis, dass die Gruppe der parteilosen stellvertretenden Abgeordneten de facto ihr Mandat verlieren würden. Die bekämpfte Bestimmung sei daher im Ergebnis willkürlich, weil kein sachlich gerechtfertigter Grund für diese Ungleichbehandlung bestehe.
14.
Mit Schreiben vom 28. April 2023 nahm der Landtagspräsident in Vertretung des Landtags des Fürstentums Liechtenstein zu den Ausführungen zu Art. 23 Abs. 2 GOLT in der Beschwerde Stellung:
14.1
Es sei geübte Praxis, dass die stellvertretenden Abgeordneten im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten durch diesen bzw. durch die Wählergruppe aufgeboten würden. Letztlich hänge es vom zu ersetzenden ordentlichen Mitglied des Landtags in Absprache mit dessen Wählergruppe ab, ob es für sich einen wichtigen Hinderungsgrund reklamiere und dementsprechend ein stellvertretendes Mitglied aufzubieten gedenke. Somit werde durch die Änderung von Art. 23 Abs. 2 GOLT keine reine Ermessensbefugnis der „Partei“ geschaffen, zumal der Entscheid, ob und wann eine Stellvertretung aufzubieten sei, nicht bei der Partei, sondern bei der Wählergruppe bzw. beim verhinderten Abgeordneten liege. Die Wählergruppe sei von der Partei klar zu unterscheiden.
14.2
Auch die Ausführungen der Beschwerdeführerin, wonach ein aus der Partei ausgetretenes Mitglied des Landtags die Gunst seiner Wählergruppe verliere, was seine Einsatzmöglichkeiten benachteiligen würde, wirke unterstellend und könne nicht nachvollzogen werden. Da es im politischen Interesse der Wählergruppe liege, möglichst alle ihr zustehenden Sitze zu besetzen, würde es „jeglicher Sinnhaftigkeit widersprechen“, wenn sich die Wählergruppe durch eine nur partielle Besetzung selbst schwächen würde.
14.3
Historisch liege die Funktion der Stellvertretung im Besonderen in der Gewährleistung der Beschlussfähigkeit des Landtags und der Aufrechterhaltung der politischen Stimmkraft der vertretenen Wählergruppe, woraus sich auch ein Bestellungsrecht der Wählergruppe im Sinne von Art. 49 Abs. 4 LV ableiten lasse. Aus Art. 23 Abs. 2 GOLT lasse sich demgegenüber kein Anspruch eines stellvertretenden Mitglieds und keine Pflicht zur Bestellung herleiten.
14.4
Schliesslich sei der Einsitz eines stellvertretenden Abgeordneten im Landtag an die Verhinderung des ordentlichen Mitglieds geknüpft und somit „auf Zeit verliehen“. Die verfassungsrechtliche Maxime des freien Mandates im Sinne von Art. 57 Abs. 1 LV beziehe sich auf die Gleichstellung eines stellvertretenden mit einem ordentlichen Mitglied des Landtags bei bzw. während der Ausübung seines Mandats anlässlich einer Landtagssitzung. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einsitznahme unterschieden sich demgegenüber bei stellvertretenden und ordentlichen Mitgliedern. Somit werde das freie Mandat nicht tangiert.
15.
Die Regierung des Fürstentums Liechtenstein (interessierte Partei) erstattete mit Schreiben vom 2. Mai 2023 eine Gegenäusserung zu dieser Individualbeschwerde und erklärte darin, dem Verfahren beizutreten. Sie beantragte, der Staatsgerichtshof wolle die Individualbeschwerde vom 29. März 2023 kostenpflichtig zurückweisen, in eventu, die Individualbeschwerde kostenpflichtig abweisen und feststellen, dass eine im Landtag vertretene Wählergruppe bzw. Fraktion einen Stellvertreter, der aus dieser Wählergruppe bzw. Fraktion ausgetreten sei, nicht mehr verfassungskonform zur Teilnahme an einer Landtagssitzung in Stellvertretung eines ihrer Abgeordneten bezeichnen könne.
In Ihrer Äusserung hält die Regierung im Wesentlichen Folgendes fest:
15.1
Zunächst macht die Regierung geltend, der Beschwerdeführerin fehle die Beschwerdelegitimation. Sie begründet dies im Wesentlichen wie folgt:
15.1.1
Nach Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes seien zur Beschwerde gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG nur diejenigen Personen legitimiert, an die sich die bekämpfte Norm direkt wende, das heisst Personen, die durch die Norm unmittelbar verpflichtet oder berechtigt würden (mit Verweis auf StGH 2011/014, Erw. 3.2 f.). Die Beschwerdeführerin erfülle jedoch die Voraussetzung der Adressateneigenschaft nicht. Dies, weil die Adressaten der Bestimmung von Art. 23 Abs. 2 GOLT nicht die stellvertretenden Abgeordneten seien, sondern die Bestimmung sich ausdrücklich an die „Fraktion“ eines verhinderten Landtagsabgeordneten richte. Die Norm räume der „Fraktion“ das Recht ein, für einen verhinderten Landtagsabgeordneten einen Stellvertreter zu bezeichnen.
15.1.2
Die von der Beschwerdeführerin behauptete Grundrechtsverletzung erweise sich als „blosse Reflexwirkung“ des Rechts der „Fraktion“ zur Bezeichnung eines Stellvertreters. Insofern sei der vorliegende Fall mit demjenigen gleichzusetzen, der dem Urteil des Staatsgerichtshofes zu StGH 2011/014 zugrunde lag. Beide Fälle müssten demnach zu derselben rechtlichen Würdigung führen.
15.1.3
Sodann erfolge kein rechtswirksamer Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin und dieser sei auch nach Art und Ausmass nicht eindeutig bestimmt. Die Beschwerdeführerin sei, wenn überhaupt, erst dann in ihren Rechten betroffen, wenn sie durch ihre Fraktion tatsächlich nicht als stellvertretende Abgeordnete aufgeboten würde. Solange sie jedoch als Stellvertreterin bezeichnet werde, bestünde jedenfalls kein „Eingriff in die Rechte“ der Beschwerdeführerin. In diesem Zusammenhang sei auf die E-Mail der Fraktion der Freien Liste vom 18. November 2021 hinzuweisen, mit welcher sie das Landtagspräsidium darüber informiert habe, dass sie die Beschwerdeführerin auch nach ihrem Parteiaustritt weiterhin als stellvertretende Abgeordnete bezeichnen werde. Dieser Ankündigung sei daraufhin Folge geleistet worden. Deshalb sei die Befürchtung der Beschwerdeführerin, zukünftig nicht mehr aufgeboten zu werden, unbegründet. Darüber hinaus bestünde auch insofern kein Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin, als ihr Austritt aus der Partei Freie Liste auch als Austritt aus der Fraktion Freie Liste verstanden würde, wodurch sie ohnehin nicht mehr verfassungskonform als Stellvertreterin aufgeboten werden könne.
15.1.4
Unter Berücksichtigung der bereits aufgeführten Punkte fehle es zudem an der aktuellen Betroffenheit der Beschwerdeführerin. Diese sei durch Art. 23 Abs. 2 GOLT - wenn überhaupt - bloss potenziell in ihren „rechtlich geschützten Interessen“ betroffen.
15.1.5
Nicht zuletzt sei die Ansicht der Beschwerdeführerin, dass keine Möglichkeit bestünde, gegen eine „Nicht-Bezeichnung“ als Stellvertreterin vorgehen zu können, nicht richtig. Da die Sicherstellung der ordnungsgemässen Besetzung des Landtages in erster Linie Aufgabe des Landtages selbst sei, stünde es der Beschwerdeführerin im Falle ihrer „Nicht-Bezeichnung“ offen, den Landtag mit der Frage über seine ordnungsgemässe Zusammensetzung zu befassen und einen Feststellungsbeschluss zu dieser Frage zu bewirken. Da der Landtag bereits in seiner Sitzung vom 11. März 2022 festgestellt habe, dass er mit der Teilnahme der Beschwerdeführerin ordnungsgemäss besetzt sei, sei davon auszugehen, dass dieser auch zukünftig einen entsprechenden Feststellungsbeschluss fassen würde. Somit mangle es auch an der letzten Voraussetzung für die Individualbeschwerde, nämlich dem Fehlen eines anderen zumutbaren Rechtsmittelwegs.
15.2
Sodann äussert sich die Regierung zur Unbegründetheit der Individualbeschwerde. Sie hält vorweg fest, dass die Änderung von Art. 23 Abs. 2 GOLT zu einer „Kann“-Bestimmung lediglich der Klarstellung diene, und verweist hierzu auf das Gutachten des Liechtenstein-Instituts vom 18. Februar 2022. Art. 23 Abs. 2 GOLT sei auch mit der früheren Formulierung („hat […] zu bezeichnen“) in der Praxis als „Kann“-Bestimmung verstanden worden. Somit sei es schon früher im Ermessen der Wählergruppe gewesen, zu entscheiden, ob im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten ein stellvertretender Abgeordneter einzuladen ist.
Dass Art. 23 Abs. 2 GOLT verfassungsmässig sei, begründet die Regierung im Wesentlichen wie folgt:
15.2.1
Art. 49 Abs. 4 LV konstituiere zwar eine Pflicht der stellvertretenden Abgeordneten zur vertretungsweisen Teilnahme an den Sitzungen des Landtags, daraus sei aber kein selbständiger Anspruch der stellvertretenden Abgeordneten auf Teilnahme abzuleiten. Art. 49 Abs. 4 LV sei als Anrecht der Wählergruppe zu verstehen, bei Verhinderung der Amtsausübung ihrer Mitglieder eine Stellvertretung zu bestellen. Generell seien stellvertretende Abgeordnete eng mit ihrer Wählergruppe verbunden. Die zentrale Rolle der Stellvertretung liege damit in der Repräsentation bzw. der Sicherung der Stimmkraft einer Wählergruppe im Landtag.
15.2.2
Aufgrund ihrer geringeren demokratischen Legitimation seien stellvertretende Abgeordnete verfassungsrechtlich nicht mit ordentlichen Abgeordneten gleichzustellen. Auch der Grundsatz des Freien Mandats i. S. v. Art. 57 Abs. 1 LV gelte nach Ansicht der Regierung nur für ordentliche Abgeordnete. Für stellvertretende Abgeordnete gelte dieser erst ab dem Zeitpunkt, in dem sie in Vertretung eines ordentlichen Mitglieds des Landtags an einer Sitzung teilnehmen würden. „Alles andere käme einer Vorauswirkung und Ausdehnung des Freien Mandats auf Personen ohne eigenes Mandat gleich, was zweifellos nicht verfassungsmässig [ist]“ (Ziff. 5.4.3).
15.2.3
Aus Art. 58 Abs. 1 LV gehe hervor, dass der Landtag nicht vollständig besetzt sein müsse, um beschlussfähig zu sein. Ferner sei es möglich, dass bei Verhinderung mehrerer ordentlichen Abgeordneter nicht genügend stellvertretende Abgeordnete vorhanden seien, um die leeren Sitze zu füllen. Eine unvollständige Besetzung des Landtags werde von der Verfassung somit bewusst in Kauf genommen, was ebenfalls gegen ein Teilnahmerecht stellvertretender Abgeordneter an Landtagssitzungen spreche.
15.2.4
Schliesslich spreche auch die Entstehungsgeschichte der Stellvertretungsregelung gegen ein Teilnahmerecht der stellvertretenden Abgeordneten.
Auf die weiteren Ausführungen der Parteien zur Zulässigkeit der Individualbeschwerde gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG wie auch zu ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den geltend gemachten Grundrechtsrügen wird, soweit relevant, untenstehend im Rahmen der Urteilsbegründung eingegangen.
16.
Der Staatsgerichtshof führte am 4. September 2023 eine öffentliche Verhandlung durch, anlässlich derer die Beschwerdeführerin A, Rechtsanwalt D als Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt E als Vertreter des Landtags sowie F als Vertreterin der Regierung ihre Argumente darlegten.
17.
Der Staatsgerichtshof entschied am 4. September 2023 nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung, anlässlich welcher der Vorsitzende bekannt gab, dass das Urteil auf schriftlichem Weg erfolgt, und nicht-öffentlicher Beratung und Abstimmung wie aus dem Spruch ersichtlich.
BEGRÜNDUNG
1.
Der Staatsgerichtshof hat von Amtes wegen zu prüfen, ob eine ihm zur Entscheidung vorgelegte Individualbeschwerde zulässig ist bzw. ob die Voraussetzungen für eine materielle Entscheidung über die Beschwerde vorliegen (StGH 2021/081, Erw. 1.1; StGH 2018/116, Erw. 1.1; StGH 2018/068, Erw. 1 [alle www.gerichtsentscheide.li]; siehe auch Tobias Michael Wille, Liechtensteinisches Verfassungsprozessrecht, LPS Bd. 43, Schaan 2007, 446 m. w. N.).
1.1
Nach Art. 15 Abs. 3 StGHG entscheidet der Staatsgerichtshof über Beschwerden, soweit die beschwerdeführende Partei behauptet, durch ein Gesetz, eine Verordnung oder einen Staatsvertrag in einem ihrer verfassungsmässig oder durch ein internationales Übereinkommen garantierten Rechte, für die der Gesetzgeber ein Individualbeschwerderecht ausdrücklich anerkannt hat (Abs. 2), unmittelbar verletzt zu sein und die jeweilige Rechtsvorschrift ohne Fällung einer Entscheidung oder Verfügung der öffentlichen Gewalt für die beschwerdeführende Partei wirksam geworden ist. Nach Art. 15 Abs. 4 StGHG kann die Beschwerde innerhalb von vier Wochen ab Wirksamkeit der unmittelbaren Verletzung (Art. 15 Abs. 3 StGHG) erhoben werden.
1.2
Für jegliche Individualbeschwerden gelten die allgemeinen Sachentscheidungsvoraussetzungen der frist- und formgerechten Einbringung der Beschwerde. Die durch die Beschwerdeführerin angefochtene Bestimmung, Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein (GOLT), wurde am 20. Dezember 2022 durch LGBl. 2022 Nr. 410 kundgemacht und trat am 1. März 2023 in Kraft. Damit wurde diese am 1. März 2023 für die Beschwerdeführerin wirksam. Die Beschwerdefrist beträgt vier Wochen ab der Wirksamkeit der unmittelbaren Verletzung (Art. 15 Abs. 4 i. V. m. Art. 15 Abs. 3 StGHG). Die mit Schriftsatz am 29. März 2023 beim Staatsgerichtshof eingebrachte Individualbeschwerde wurde damit fristgerecht erhoben. Die Individualbeschwerde wurde auch formgerecht eingebracht, womit im Folgenden noch die besonderen Beschwerdelegitimationsvoraussetzungen für die Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG zu prüfen sind.
1.3
Zunächst ist zu prüfen, ob es sich bei der gerügten Norm Art. 23 Abs. 2 GOLT um ein Gesetz oder eine Verordnung im Sinne von Art. 15 Abs. 3 StGHG handelt. Die Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtensteins stützt sich auf Art. 60 LV. Dieser sieht vor, dass der Landtag beschlussweise unter Beobachtung der Bestimmungen dieser Verfassung seine Geschäftsordnung festsetzt. Die GOLT wird folglich in Form eines Beschlusses erlassen (Art. 60 LV), wobei es sich nicht um ein Gesetz handelt. Unmittelbar aus der Bezeichnung als „Landtagsbeschluss“ lässt sich nicht direkt auf eine Verordnung schliessen. Allerdings ist gemäss der österreichischen Verfassungsrechtslehre der Inhalt eines Rechtsakts massgeblich, um diesen als Verordnung im Sinne von Art. 15 Abs. 3 StGHG zu bezeichnen, und nicht der formelle Adressatenkreis oder die äussere Bezeichnung der Norm. Erlasse können als Verordnung betrachtet werden, wenn sie imperativ gehalten sind, das Gesetz bzw. die Verfassung bindend auslegen und für eine allgemein bestimmte Vielzahl von Personen unmittelbar Geltung beanspruchen (Willibald Liehr/Manfred Griebler, Zulässigkeitsanforderungen an Individualrechtsbehelfe, Aus der Sicht des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 2006, 511). Auch der Staatsgerichtshof geht von einem weiten Verordnungsbegriff aus. Er prüft im Rahmen von Normkontrollen auch Verordnungen mit generell-verbindlichem Charakter, die nicht von der Regierung erlassen werden, auf ihre Verfassungsmässigkeit (z. B. StGH 2023/025, Erw. 1.3.3 f. [www.gerichtsentscheide.li]; vgl. auch Tobias Michael Wille, Verfassungsprozessrecht, a. a. O., 151 f.). Die GOLT konkretisiert im Sinne eines generell-abstrakten Erlasses die Verfassungsvorgaben zur Organisation und zu den Abläufen des Landtages. Ihre Normen sind für die Funktionsfähigkeit des Landtags als Verfassungsorgan von grundsätzlicher Bedeutung und für die Fraktionen und die Abgeordneten materiell-verbindlich. Aufgrund ihrer besonderen Relevanz wird die GOLT auch im Landesgesetzblatt publiziert (Peter Bussjäger, Online-Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung [verfassung.li; Stand: 15. September 2016], Art. 60, Rz. 17 ff.). Dabei wird die GOLT nicht in Form eines Gesetzesbeschlusses erlassen, sondern stellt eine verfassungsunmittelbare Parlamentsverordnung dar. Auch Art. 84 LV, der für die Geschäftsordnung der Regierung ausdrücklich die Form der Verordnung vorsieht, deutet auf den Verordnungscharakter einer solchen Geschäftsordnung hin. Im Stufenbau der Rechtsordnung steht sie somit unterhalb der Verfassung und kann in Bezug auf ihre Gültigkeit am Massstab der Verfassung gemessen werden (siehe auch Peter Bussjäger, a. a. O., Art. 60, Rz. 29 f.). Folglich weist der angefochtene Art. 23 Abs. 2 GOLT Verordnungscharakter im Sinne von Art. 15 Abs. 3 StGHG auf.
1.4
Sodann handelt es sich bei der Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG um ein besonderes Rechtsmittel, das mit dem StGHG vom 27. November 2003, LGBl. 2004 Nr. 32, eingeführt wurde (hierzu Tobias Michael Wille, Verfassungsprozessrecht, a. a. O., 584 f.). Als Vorbild diente die österreichische Regelung in Art. 139 Abs. 1 und Art. 140 Abs. 1 öB-VG (vgl. BuA Nr. 45/2003, 41 ff.; StGH 2007/021, Erw. 1 m. w. N.; Heinz Josef Stotter, Die Verfassung des Fürstentums Liechtenstein, 2. Aufl., Vaduz 2004, 737 f.; Willibald Liehr/Manfred Griebler, Zulässigkeitsanforderungen, a. a. O., 509 ff.). Angesichts der nahen Verwandtschaft der liechtensteinischen Individualbeschwerde gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG mit dem österreichischen Individualantrag liegt es nahe, die österreichische Praxis zu Art. 139 Abs. 1 und Art. 140 Abs. 1 öB-VG als Orientierungshilfe für die Auslegung von Art. 15 Abs. 3 StGHG heranzuziehen. Nach dieser Praxis, auf die sich auch der Landtag bei seinen Beratungen von Art. 15 StGHG stützte (BuA Nr. 45/2003, 41 ff.; Landtag, Protokoll der Sitzung vom 18. September 2003, 1299), handelt es sich bei Art. 15 Abs. 3 StGHG um ein subsidiäres Rechtsmittel, das nur zur Anwendung kommen soll, wenn der ordentliche Rechtsweg nicht möglich und nicht zumutbar ist. Es sollte auf jeden Fall keine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes im Sinne eines die Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 1 StGHG ergänzenden abstrakten Normenkontrollverfahrens vor dem Staatsgerichtshof eingeführt werden. Die Geltendmachung der Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG sollte vielmehr nur unter besonderen Voraussetzungen möglich sein, nämlich dann, wenn die angefochtene Rechtsvorschrift für die beschwerdeführende Partei tatsächlich, und zwar ohne Fällung eines gerichtlichen Entscheides bzw. ohne Erlass einer Verfügung einer Verwaltungsbehörde, rechtswirksam geworden ist und sie in ihren verfassungsmässigen Rechten unmittelbar verletzt (StGH 2021/081, Erw. 1.4; StGH 2018/116, Erw. 1.3; StGH 2015/015, Erw. 1.2 [alle www.gerichtentscheide.li]; vgl. auch Heinz Josef Stotter, Verfassung, a. a. O., 737 f.). Konkret bedeutet dies (siehe Tobias Michael Wille, Verfassungsprozessrecht, a. a. O., 585):
  • Der rechtswirksame Eingriff in die verfassungsmässigen Rechte der Beschwerdeführerin muss durch die Rechtsnorm selbst tatsächlich erfolgen und nach Art und Ausmass durch die Rechtsvorschrift eindeutig bestimmt sein;
  • die rechtlich geschützten Interessen der Beschwerdeführerin müssen nicht bloss potentiell, sondern aktuell betroffen sein;
  • es steht kein anderer zumutbarer Rechtsmittelweg zur Verfügung.
1.4.1
Es ist zunächst zu prüfen, ob die bekämpfte Rechtsvorschrift die Beschwerdeführerin unmittelbar in einem verfassungsmässig gewährleisteten Rechte zu verletzen vermag. Es muss ein Eingriff in die „Rechtssphäre des Antragstellers“ behauptet werden (Willibald Liehr/Manfred Griebler, Zulässigkeitsanforderungen, a. a. O., 512). Dazu ist es, legt man die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zugrunde, namentlich erforderlich, dass die Beschwerdeführerin Adressatin der angefochtenen Rechtsvorschrift ist und die angefochtene Rechtsvorschrift selbst tatsächlich in die Rechtssphäre der Beschwerdeführerin unmittelbar eingreift. Weiter muss dieser Eingriff nach Art und Ausmass durch die Rechtsvorschrift eindeutig bestimmt sein (StGH 2013/042, Erw. 1.1; StGH 2011/014, Erw. 3.2 [beide www.gerichtsentscheide.li]; öVfGH, VfSlg. 13444/1993, Erw. 3). Dies ist dann der Fall, wenn keine Konkretisierung des angefochtenen Rechtssatzes durch eine Entscheidung oder Verfügung der öffentlichen Gewalt erforderlich ist, gegen die der ordentliche Rechtsweg zur Verfügung steht (StGH 2021/081, Erw. 1.8; StGH 2018/116, Erw. 1.7; StGH 2015/015, Erw. 1.5 [alle www.gerichtsentscheide.li]).
1.4.2
Laut Gegenäusserung der Regierung sei die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar von der angefochtenen Bestimmung betroffen. Es fehle ihr an der erforderlichen Adressateneigenschaft. Adressatin des Art. 23 Abs. 2 GOLT sei die „Fraktion“ [sic] eines verhinderten Landtagsabgeordneten, der das Recht zur Bezeichnung einer Stellvertretung eingeräumt werde. Die Regierung erachtet die von der Beschwerdeführerin behauptete Grundrechtsverletzung als „blosse Reflexwirkung“ des Rechts der Fraktion zur Bezeichnung eines stellvertretenden Abgeordneten, wie dies in StGH 2011/014 der Fall gewesen sei. Dieser Ansicht kann der Staatsgerichtshof aus den folgenden Gründen nicht folgen:
1.4.3
Nach Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes können auch nicht unmittelbar von einer Regelung bezeichnete Personen als Normadressaten betrachtet werden, wenn durch die Regelung ihrem Inhalt und Zweck nach nicht nur deren tatsächliche Situation berührt wird, sondern auch in deren - insbesondere durch verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte geprägte - Rechtssphäre eingegriffen wird (öVfGH, VfSlg. 19.349/2011, Erw. 3.2; öVfGH, VfSlg. 19.892/2014, Erw. 1.1.5; ferner auch öVfGH, VfSlg. G106/2022 u. a., V140/2022, Erw. 4). Dem folgt auch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs (StGH 2013/042, Erw. 1.2 f.; vgl. auch StGH 2021/081, Erw. 1.8.7 ff. [beide www.gerichtsentscheide.li]).
1.4.4
Dem Wortlaut des neuen Art. 23 Abs. 2 GOLT zufolge ist zwar die „Wählergruppe“ des verhinderten Mitglieds angesprochen, gemäss Art. 49 der Verfassung einen stellvertretenden Abgeordneten im Sinne von Art. 46 Abs. 2 der Verfassung zu bezeichnen. Diese in Art. 23 Abs. 2 GOLT statuierte Regelung zur Bezeichnung der stellvertretenden Abgeordneten hängt jedoch unmittelbar mit deren Möglichkeit zusammen, in ihrer Funktion im Landtag Einsitz zu nehmen. Dem Wortlaut ist zudem unmissverständlich zu entnehmen, dass die Wählergruppe im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten einen stellvertretenden Abgeordneten aufbieten „kann“. Diese Bestimmung statuiert folglich eine Ermessensbefugnis für die Wählergruppe in Bezug auf den Entscheid, ob ein stellvertretender Abgeordneter aufgeboten wird oder nicht.
1.4.5
Die Beschwerdeführerin selbst ist stellvertretende Abgeordnete. Weder die Regierung noch die belangte Behörde bestreiten dies. Die Regierung macht zwar geltend, die Teilnahme der Beschwerdeführerin an Sitzungen des Landtags sei verfassungswidrig. Aber auch die Regierung bestreitet den Status der Beschwerdeführerin als stellvertretende Abgeordneten nicht ausdrücklich.
1.4.6
Die Beschwerdeführerin behauptet glaubhaft, dass die geänderte Regelung in Art. 23 Abs. 2 GOLT negativ in ihre Rechtssphäre eingreift. Denn wo sie zuvor - nach alter Regelung der GOLT - als gewählte stellvertretende Abgeordnete in einem Verhinderungsfall automatisch für die Landtagssitzungen aufgeboten wurde, hängt die Wahrnehmung ihres Amtes nun vom Ermessen und damit der Gunst ihrer Wählergruppe ab. Diese direkte Abhängigkeit der stellvertretenden Abgeordneten vom Entscheid ihrer Wählergruppe in Bezug auf die Wahrnehmung ihres Amtes betrifft unmittelbar die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin als stellvertretende Abgeordnete. Die Beschwerdeführerin ist somit als Normadressatin der angefochtenen Gesetzesbestimmung anzusehen.
1.4.7
Der Ansicht der Regierung, dass sich die Betroffenheit der Beschwerdeführerin als blosse Reflexwirkung herausstelle, kann hingegen nicht gefolgt werden. In StGH 2011/014 (a. a. O.) waren wesentlich mehr Zwischenschritte zwischen den konkreten Handlungen des Amts für Statistik als Normadressatin und dem Eingriff in die verfassungsmässigen Rechte der Ärztinnen und Ärzte als Beschwerdeführende notwendig, weshalb dort die Unmittelbarkeit des Eingriffs nicht bejaht werden konnte.
1.5
Als weitere Voraussetzung für die Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG ist zu prüfen, ob die rechtlich geschützten Interessen der Beschwerdeführerin nicht bloss potenziell, sondern aktuell betroffen sind. Laut der Regierung sei diese Voraussetzung ebenfalls nicht erfüllt. Sie vertritt die Ansicht, dass eine von der Wählergruppe ausgehende „Nicht-Bezeichnung“ der stellvertretenden Abgeordneten im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten massgeblich sei und die Beschwerdeführerin, wenn überhaupt, erst dann tatsächlich und aktuell in ihrer Rechtsposition betroffen sei. Diese Ansicht trifft angesichts der vorliegenden Umstände nicht zu. Denn alleine mit Inkrafttreten des geänderten Art. 23 Abs. 2 GOLT wurde die Wahrnehmung ihres Amtes als stellvertrende Abgeordnete vom Ermessen ihrer Wählergruppe abhängig. Die Zusicherung, im Verhinderungsfall auch tatsächlich aufgeboten zu werden, basiert lediglich auf einer E-Mail-Nachricht der Fraktion der Freien Liste vom 18. November 2021. Dadurch wird die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Fraktion aber gerade unterstrichen. Die Unsicherheit über die Wahrnehmung ihres Amtes besteht somit unabhängig von einem tatsächlichen Entscheid der Wählergruppe, im Vertretungsfall auf eine Bezeichnung zu verzichten. Die Bemühung um die Aufhebung dieser Rechtslage ist für die Beschwerdeführerin damit von aktuellem Interesse.
1.6
Als dritte Eintretensvoraussetzung ist schliesslich zu prüfen, ob der Beschwerdeführerin ein anderer zumutbarer Rechtsmittelweg zur Verfügung steht (Tobias Michael Wille, Verfassungsprozessrecht, a. a. O., 585 m. w. N.). Dieses Erfordernis hat seine Grundlage im subsidiären Charakter der Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG: Sie gewährleistet Rechtsschutz, wenn ein Rechtssatz unmittelbar in verfassungsmässig gewährleistete Rechte eingreift und der ordentliche Instanzenzug mangels Entscheidung oder Verfügung der öffentlichen Gewalt nicht zur Verfügung steht. Prozessökonomische Überlegungen sind dabei nicht massgeblich, ebenso wenig die Erfolgsaussichten im ordentlichen Beschwerdeverfahren. Als unzumutbar ist nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes etwa die Provokation einer Strafsanktion zur Erlangung einer anfechtbaren Entscheidung, aber auch schon das Abwarten bevorstehender blosser verwaltungsrechtlicher Nachteile (Entzug von Betriebsbewilligungen) zu qualifizieren (StGH 2021/081, Erw. 1.10.1; StGH 2018/116, Erw. 1.9; StGH 2015/015, Erw. 1.7 [alle www.gerichtsentscheide.li]).
1.6.1
Wie es die Beschwerdeführerin zu Recht darlegt, wäre es unzumutbar, eine tatsächliche „Nicht-Bezeichnung“ durch ihre Wählergruppe abzuwarten, um dann einen Feststellungsbeschluss durch den Landtag zu erwirken und um diesen wiederum anzufechten. Erstens wäre die Zeit des Abwartens für die Beschwerdeführerin mit einer stetigen Rechtsunsicherheit verbunden, die der ungestörten Ausübung ihres Amtes als stellvertretende Abgeordnete im Weg stünde. Zweitens würde eine tatsächliche „Nicht-Bezeichnung“ zum unmittelbaren Nachteil für die Beschwerdeführerin führen, ihr Amt nicht wahrnehmen zu können. Sodann geht aus dem Vorschlag der Regierung nicht eindeutig hervor, wie nach einer „Nicht-Bezeichnung“ der Beschwerdeführerin ein Feststellungsbeschluss durch den Landtag erwirkt werden könnte bzw. wie der Rechtsmittelweg in dieser Situation aussehen würde.
1.6.2
Diese Frage kann allerdings offengelassen werden. Denn selbst wenn ein solcher alternativer Rechtsmittelweg über einen Feststellungsbeschluss eingeschlagen werden könnte, so sind die erwähnten Nachteile für die Beschwerdeführerin nicht zumutbar. Somit steht der Beschwerdeführerin kein zumutbarer alternativer Rechtsmittelweg zur Verfügung.
1.7
Aufgrund dieser Erwägungen erachtet der Staatsgerichtshof insgesamt auch die besonderen Beschwerdelegitimationsvoraussetzungen gemäss Art. 15 Abs. 3 StGHG für die Beschwerdeführerin als erfüllt. Es ist deshalb materiell auf ihre Individualbeschwerde einzutreten und die von ihr begehrte Normprüfung vorzunehmen.
2.
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer verfassungsmässigen und durch die EMRK gewährleisteten Rechte durch Art. 23 Abs. 2 GOLT i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410. Konkret stellt die Beschwerdeführerin dabei einerseits die Verletzung ihres verfassungsmässig gewährleisteten Rechts gemäss Art. 29 LV auf Ausübung ihrer Rechte als Landtagsabgeordnete, namentlich auf Teilnahme an den Landtagssitzungen (passives Wahlrecht, Art. 29 LV i. V. m. Art. 46 Abs. 1 LV; siehe dazu auch Bernhard Ehrenzeller/Rafael Brägger, Politische Rechte, in: Kley/Vallender [Hrsg.], Grundrechtspraxis in Liechtenstein, LPS Bd. 52, Schaan 2012, 650, Rz. 20 ff.) sowie andererseits die Ungleichbehandlung mit den ordentlichen Abgeordneten ins Zentrum ihrer Beschwerde.
2.1
Es ist unstrittig, dass die Beschwerdeführerin als stellvertretende Landtagsabgeordnete Grundrechtsträgerin der von ihr geltend gemachten Grundrechte, insbesondere des Art. 29 LV, ist (vgl. Bernhard Ehrenzeller/Rafael Brägger, Politische Rechte, a. a. O., 643 f., Rz. 10 f.).
2.2
Nach ständiger Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes gehören die politischen Rechte, die u. a. das aktive und passive Wahlrecht in den Landtag, das Recht auf Einberufung und Auflösung des Landtages, das Initiativ- sowie das Referendumsrecht umfassen, zu den verfassungsmässig gewährleisteten Rechten (Bernhard Ehrenzeller/Rafael Brägger, Politische Rechte, a. a. O., 642, Rz. 6 f.). Art. 29 LV beinhaltet einen grundrechtlichen Anspruch auf ungehinderte Ausübung der politischen Rechte (StGH 2013/183, Erw. 2.1; StGH 2004/058, Erw. 2.3; StGH 2003/071, Erw. 2 [alle www.gerichtsentscheide.li]). Trotz der Platzierung im Grundrechtekatalog stellt die Bestimmung jedoch kein klassisches Freiheitsrecht mit Abwehrfunktion dar. Es handelt sich vielmehr um eine Grundnorm, welche in offener und abstrakter Weise die politischen Rechte in ihrer Gesamtheit in dem Masse garantiert, wie sie von der Verfassung im V. Hauptstück (Vom Landtage) eingeräumt werden (Bernhard Ehrenzeller/Rafael Brägger, Politische Rechte, a. a. O., 643, Rz. 7).
2.3
Zentral für die Stellung der Abgeordneten und ihrer Stellvertretung sind daher die einzelnen Verfassungsbestimmungen im V. Hauptstück der Landesverfassung, die den Landtag als Verfassungsorgan und seine Mitglieder zum Gegenstand haben. Deshalb sind bei der nachfolgenden Prüfung, ob Art. 23 Abs. 2 GOLT gegen die in Art. 29 LV verfassungsmässig gewährleisteten politischen Rechte der Beschwerdeführerin verstösst und damit verfassungswidrig ist, sowohl die angefochtene Rechtsvorschrift selber wie auch die einschlägigen Bestimmungen der Verfassung nach den allgemein anerkannten Grundsätzen auszulegen.
3.
Der Staatsgerichtshof weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass heute anerkanntermassen keine allgemein gültige Hierarchie der Auslegungsmethoden besteht. Die Wortauslegung stellt zwar zwangsläufig den Ausgangspunkt der Auslegungstätigkeit dar. Hiervon abgesehen hat die Wortauslegung gegenüber der Auslegung nach der systematischen Stellung der Norm, nach der historischen und schliesslich nach der teleologischen Bedeutung der Norm (allenfalls ergänzt durch die rechtsvergleichende und verfassungskonforme Auslegung) keinen Vorrang; dies allein schon deshalb, weil die Entscheidung, ob der Wortlaut einer Bestimmung für den jeweiligen Anwendungsfall einen klaren Sinn ergibt, sich grundsätzlich erst aus dem Kontext, das heisst unter Berücksichtigung einer oder mehrerer weiterer Auslegungsmethoden beurteilen lässt. Es sind im Sinne eines „Methodenpluralismus“ alle für den jeweiligen Einzelfall relevanten Auslegungsmethoden zu berücksichtigen und deren einander allenfalls widersprechende Ergebnisse im Rahmen einer umsichtigen Güterabwägung zu gewichten. Wenn bei widersprüchlichen Ergebnissen der verschiedenen Auslegungsmethoden eine wertende Abwägung vorzunehmen ist, impliziert dies, dass das Auslegungsergebnis bei entsprechender Gewichtung der anderen Auslegungsmethoden im konkreten Fall dem Wortlaut widersprechen kann (StGH 2018/100, Erw. 2.4.1; StGH 2017/080, Erw. 2.2 [beide www.gerichtsentscheide.li]; siehe auch Tobias Michael Wille, Verfassungs- und Grundrechtsauslegung in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, in: Liechtenstein-Institut [Hrsg.], Beiträge zum liechtensteinischen Recht aus nationaler und internationaler Perspektive. FS Herbert Wille, LPS Bd. 54, Schaan 2014, 131 [162 f.]). Im Extremfall kann sich umgekehrt sogar eine wortlautkonforme Auslegung als geradezu willkürlich erweisen (StGH 2014/072, Erw. 3.2; StGH 2014/064, Erw. 3.4; StGH 2011/181, Erw. 2.2 [alle www.gerichtsentscheide.li]).
4.
Zunächst ist festzustellen, wie der aktuelle Art. 23 Abs. 2 GOLT zu verstehen ist.
4.1
Der Wortlaut der bisherigen Version von Art. 23 Abs. 2 GOLT (siehe vorne Sachverhalt, Ziff. 11) deutete zunächst darauf hin, dass im Verhinderungsfall eines ordentlichen Abgeordneten automatisch ein stellvertretender Abgeordneter einzusetzen war. Der Wortlaut des neuen Art. 23 Abs. 2 GOLT spricht sich mit einer „Kann“-Bestimmung ausdrücklich gegen einen solchen Automatismus und für ein Ermessen der Wählergruppe aus.
4.2
Dass Art. 23 Abs. 2 GOLT der Wählergruppe ein Ermessen bei der Einsetzung von stellvertretenden Abgeordneten einräumt, ergibt sich auch aus seiner Entstehungsgeschichte: „Anhand einer Kann-Bestimmung soll klargestellt werden, dass der Entscheid über das Erfordernis der Bestellung einer Stellvertretung bei der Fraktion bzw. Wählergruppe liegt“ (BuA Nr. 69/2022, S. 11).
4.3
Es stellt sich daher die Frage, ob dieses durch Art. 23 Abs. 2 GOLT eingeräumte Ermessen der Wählergruppe gegen die von der Beschwerdeführerin gerügten verfassungsmässigen und durch die EMRK gewährleisten Rechte verstösst. Damit einher geht die Frage, ob stellvertretende Abgeordnete einen - auf Verhinderungsfälle beschränkten - verfassungsmässigen Anspruch auf Teilnahme an den Landtagssitzungen haben.
5.
Sodann sind die einschlägigen Bestimmungen der Verfassung auszulegen, wobei wiederum zunächst vom Wortlaut auszugehen ist.
5.1
Die Stellvertretung verhinderter Landtagsabgeordneter wird im Grundsatz in der Verfassung geregelt. Gemäss Art. 46 Abs. 2 LV werden „mit den 25 Abgeordneten […] in jedem Wahlbezirk auch stellvertretende Abgeordnete gewählt. Auf jeweils drei Abgeordnete in einem Wahlbezirk steht jeder Wählergruppe ein stellvertretender Abgeordneter zu, jedoch mindestens einer, wenn eine Wählergruppe in einem Wahlkreis ein Mandat erreicht.“ Art. 49 Abs. 4 LV hält fest, dass „die stellvertretenden Abgeordneten […] bei Behinderung eines Abgeordneten ihrer Wählergruppe an einzelnen oder mehreren aufeinanderfolgenden Sitzungen in Stellvertretung des verhinderten Abgeordneten mit Sitz und Stimme teilzunehmen [haben]“. Damit deutet der Wortlaut von Art. 49 Abs. 4 LV mit der Formulierung „haben […] teilzunehmen“ auf einen zwingenden Einsatz der stellvertretenden Abgeordneten hin.
5.2
Im Rahmen der öffentlichen Verhandlung wurde insbesondere von Seiten der Regierung darauf hingewiesen, dass der Begriff der „Wählergruppe“ materiell weitgehend mit dem Begriff der „Partei“ bzw. der „Fraktion“ zusammenfalle. Trete eine stellvertretende Abgeordnete aus ihrer Partei aus, bestehe somit auch keine Möglichkeit der Stellvertretung mehr, da sie der zu vertretenden Wählergruppe bzw. Partei nicht mehr angehöre. Mit Blick auf den Wortlaut der Bestimmung kann dieser Argumentation nicht gefolgt werden. Der Begriff „Wählergruppe“ im Sinne von Art. 46 Abs. 2 und Art. 49 Abs. 4 LV kann nicht ohne Weiteres mit dem Begriff der Partei oder Fraktion gleichgesetzt werden. Zwar ist es mittlerweile üblich, dass einzelne Mitglieder einer Partei als Wählergruppe auftreten und sich mit dem Namen ihrer Partei auf einer Wählerliste zur Wahl stellen; die Parteizugehörigkeit ist für den Zusammenschluss als Wählergruppe rechtlich aber nicht vorausgesetzt. So formierte sich die Wählergruppe „Die Unabhängigen für Liechtenstein“ (DU) erst 2013, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass gemäss Parteienförderungsgesetz nur Wählergruppen, die als Verein organisiert sind, in den Genuss einer Parteienförderung gelangen, zu einer politischen Partei. Abzugrenzen ist der Begriff der Wählergruppe ferner von der Fraktion, zu deren Bildung es mindestens dreier Mitglieder bedarf (Art. 14 Abs. 1 GOLT). Parteien und Fraktionen können sich jederzeit bilden und wieder auflösen. Demgegenüber erfüllt die Wählergruppe vor allem mit Blick auf die Landtagswahl eine Funktion, weshalb der Begriff vor allem durch die Bestimmungen des Volksrechtegesetzes schärfere Konturen erhält. Die genaue Bedeutung des Begriffs bleibt aber auch mit Blick auf die Bestimmungen im Volksrechtegesetz (insbesondere Art. 40, 47, 55 und 60 VRG) nicht restlos geklärt, weshalb alleine aus dem Wort „Wählergruppe“ im vorliegenden Zusammenhang nichts weiter abgeleitet werden kann (vgl. zur Unklarheit des Begriffs „Wählergruppe“ auch Christian Frommelt/Patricia M. Schiess Rütimann, Folgen des Parteiaustritts von stellvertretenden Abgeordneten auf ihr Mandat. Gutachten zuhanden des Parlamentsdienstes, Gamprin-Bendern 2022, Ziff. 2.3 und 2.4).
6.
Die Regierung stützt sich in ihrer Äusserung vom 2. Mai 2023 auch auf die Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) von Art. 23 Abs. 2 GOLT und macht geltend, dass sich vor ihrem Hintergrund das „in jahrzehntelanger Praxis geübte Verständnis, dass es im Ermessen der Fraktion liegt, im Verhinderungsfall einen Stellvertreter für die Landtagsitzung zu bezeichnen oder darauf zu verzichten, als angemessen und verfassungskonform [erweist]“.
6.1
Die Formulierung des heutigen Art. 23 Abs. 2 GOLT wurde bereits anlässlich des Erlasses der Geschäftsordnung von 1969 diskutiert. Der damalige § 18 Abs. 2 GOLT 1969 lautete: „Für das verhinderte Mitglied ist gemäss Art. 49 der Verfassung ein Stellvertreter einzuladen.“ Anlass zur Diskussion gab die Frage, „wer“ den Stellvertreter aufbieten solle, d. h. der Landtagspräsident oder die Fraktion. Im Zentrum stand damit primär eine organisatorische Frage und nicht die Frage, ob der Fraktion oder dem Präsidenten Ermessen zukomme. Das seinerzeitige Votum des Abgeordneten G deutet vielmehr darauf hin, dass ein solches Ermessen gerade nicht gewollt war. Auf das Votum des Abgeordneten H, der die Bestimmung so formulieren wollte, dass die Fraktion den Stellvertreter einlädt, entgegnete er: „Wenn das gewünscht wird, so stellt sich die Frage, ob wir mit der Geschäftsordnung nicht ausserhalb der Verfassung hinaustanzen. Einberufen, d.h. einladen tut in Gottes Namen der Präsident und nicht die Fraktion. Aber er hat einzuladen“ (Protokoll der Landtagssitzung vom 6. Mai 1968, S. 26). Das Wort „hat“ wurde im Protokoll durch Unterstreichung hervorgehoben. In der darauffolgenden Geschäftsordnung von 1989 wurde die Bestimmung so abgeändert, dass nicht mehr von „ist … einzuladen“, sondern „ist … zu bezeichnen“ (§ 20 Abs. 2 GOLT 1989) die Rede war.
6.2
Die Person, die den Stellvertreter einlädt bzw. bezeichnet, wurde erst mit der Geschäftsordnung von 1996 explizit festgehalten. Seither lautete Art. 21 Abs. 2 GOLT 1996: „Für das verhinderte Mitglied hat dessen Fraktion gemäss Art. 49 der Verfassung einen Stellvertreter im Sinne von Art. 46 Abs. 2 der Verfassung zu bezeichnen“. Die Änderung geht auf die Empfehlung der Parlamentsreformkommission zurück (Anhang 1 [Geschäftsordnung] zum Bericht der Parlamentsreformkommission vom 15. Oktober 1996, BuA Nr. 168/1996, S. 4). Dem von der Regierung in ihrer Äusserung vom 2. Mai zitierten Protokoll der Parlamentsreformkommission vom 28. August 1995 (S. 4) ist zu entnehmen, dass zu Art. 23 Abs. 2 GOLT länger diskutiert wurde. Im Zentrum stand allerdings wiederum die Frage, wer den stellvertretenden Abgeordneten zu bezeichnen hat, der abwesende Abgeordnete oder die Fraktion. Obschon dies auf ein gewisses Ermessen hindeuten mag, geht aus dem Protokoll hervor, dass sich ein solches Ermessen in erster Linie auf die Wahl zwischen zwei stellvertretenden Abgeordneten bezieht, und nicht auf die Frage, ob im Verhinderungsfall überhaupt ein Stellvertreter zu bezeichnen ist. Tatsächlich besteht eine Rechtsunsicherheit bei der Frage, ob den Fraktionen ein Auswahlermessen zusteht, wenn der Wählergruppe mehrere stellvertretende Abgeordnete zustehen (kritisch zu einem solchen Auswahlermessen: Peter Bussjäger, a. a. O., Art. 49, Rz. 26; Roger Beck: Rechtliche Ausgestaltung, Arbeitsweise und Reformbedarf des liechtensteinischen Landtags, LPS 53, Schaan 2023, S. 146 f.; Patricia M. Schiess Rütimann: Die Regelung der Stellvertretung von Staatsoberhaupt, Parlaments- und Regierungsmitgliedern in Liechtenstein - ein anregendes Vorbild? (Preprint), in: Sebastian Wolf (Hrsg.), State Size Matters. Politik und Recht im Kontext von Kleinstaatlichkeit und Monarchie, Wiesbaden 2016, S. 117). Die Frage kann vorliegend offengelassen werden. Weder dem Protokoll der Parlamentsreformkommission vom 28. August 1995, noch den weiteren Materialien zur Änderung von Art. 46 Abs. 4 LV, zum Proporzgesetz von 1939 (Gesetz vom 18. Januar 1939 über die Einführung des Verhältniswahlrechtes, LGBl. 1939 Nr. 4) sowie zur Einführung und späteren Änderung der GOLT lassen sich Hinweise entnehmen, dass ein Entschliessungsermessen der Fraktion anerkannt worden wäre, überhaupt eine Stellvertretung aufzubieten. Die vorliegenden Materialien deuten vielmehr darauf hin, dass stellvertretende Abgeordnete im Verhinderungsfall immer zu bezeichnen bzw. aufzubieten sind.
6.3
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch die bisherige Praxis zu Art. 23 Abs. 2 GOLT keine eindeutigen Schlüsse zulässt. Es bestehen für den Staatsgerichtshof indes erhebliche Zweifel, ob die Bezeichnung stellvertretender Abgeordneter - entgegen dem Wortlaut der Verfassung und dem bisherigen Wortlaut der GOLT - dem freien Ermessen der Fraktion, Partei oder Wählergruppe anheimgestellt wurde. Zwar war es in der Vergangenheit nicht immer möglich, in jedem Fall kurzfristig eine Stellvertretung aufzubieten und dennoch wurde der Landtag als beschlussfähig angesehen. Auch Beck erklärt sich die Tatsache, dass in der Vergangenheit mehr ordentliche Abgeordnete fehlten, wie stellvertretende Abgeordnete anwesend waren, einerseits mit der Kurzfristigkeit der Absenzen und andererseits damit, dass es zahlenmässig nicht für jeden ordentlichen Abgeordneten einen Stellvertreter gibt (Roger Beck, Ausgestaltung, a. a. O., S. 140).
6.4
Im Rahmen der historischen Auslegung zu beachten ist sodann, dass die Möglichkeit der Wählergruppe, Abgeordnete bei Vorliegen von „wichtigen Gründen“, aus dem Landtag abzuberufen (Art. 47 Abs. 2 aLV), 1997 mit Blick auf das freie Mandat und den Beitritt zum 1. ZP EMRK aufgehoben wurde (LGBl. 1997 Nr. 46; dazu Peter Bussjäger, a. a. O., Art. 47, Rz. 11 f.). Damit machte der Verfassungsgeber deutlich, dass er das durch Art. 57 LV und die EMRK garantierte freie Mandat höher gewichtet als ein allfälliges „Nachjustieren“ des tatsächlichen oder vermeintlichen Wählerwillens nach einem Parteiaustritt (vgl. Bericht der Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine Parlamentsreform vom 16. Oktober 1996, BuA Nr. 168/1996, Anhang III, S. 1). Massgebend ist somit einzig, ob die Person als Abgeordnete gewählt wurde oder nicht. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass diese Änderung der Verfassung sich nur auf ordentliche Abgeordnete bezog, nicht aber auf stellvertretende Abgeordnete. Würde man es dem freien Ermessen der Wählergruppe anheimstellen, ob sie ihre stellvertretenden Abgeordneten bezeichnet oder darauf verzichtet, würde im Ergebnis ein Abberufungsrecht für stellvertretende Abgeordnete wieder eingeführt.
7.
In die Auslegung miteinzubeziehen ist ferner der Normzweck (teleologische Auslegung) und damit die Frage, weshalb der Liechtensteinische Landtag das (im internationalen Vergleich eher seltene) Institut der stellvertretenden Abgeordneten kennt.
7.1
Der Liechtensteinische Landtag ist - gerade verglichen mit den Parlamenten in den Nachbarstaaten Schweiz und Österreich - mit früher 15 Mitgliedern und heute 25 Mitgliedern sehr klein (die Kantonsparlamente in der Schweiz bestehen aus 50 bis 180 Mitgliedern, die Landtage in Österreich aus 36 bis 100 Mitgliedern, der österreichische Nationalrat aus 183 Mitgliedern, der Schweizer Nationalrat aus 200). Historischer Hintergrund dieser vergleichsweise tiefen Mitgliederzahl ist, dass der Landtag aus dem Ständelandtag hervorgegangen ist und nicht - wie viele Schweizer Kantonsparlamente - aus einem „Grossen Rat“ (vgl. Paul Vogt, „Landtag“, Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL) [https://historisches-lexikon.li/Landtag; Stand: 31. Dezember 2011]). Damit dieses Gremium entscheidungsfähig bleibt und die Regelzusammensetzung mit 25 Mitgliedern (Art. 46 Abs. 1 LV) gehalten werden kann, kennt das liechtensteinische Verfassungsrecht eine Stellvertreterregelung. Damit verleiht die Verfassung der Entscheidfähigkeit und Stabilität der Institution Landtag ein hohes Gewicht. Diese Stabilität wird auch dadurch sichergestellt, dass die Abgeordneten eine Teilnahmepflicht trifft und sie im Fall der Verhinderung diese rechtzeitig und begründet dem Präsidenten anzuzeigen haben (Art. 53 LV). In diesem Fall „haben“ die stellvertretenden Abgeordneten teilzunehmen. Der Umstand, dass der Landtag auch nicht in Vollbesetzung entscheidungsfähig ist (Art. 58 LV), dient ebenfalls der Erhaltung der Funktionsfähigkeit, bedeutet aber nicht, dass deswegen die Teilnahme- und Einsetzungspflicht entfallen würde.
7.2
Zweck der Stellvertreterregelung ist neben der Erhaltung der Funktionsfähigkeit zudem, dass sich die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im Falle der Verhinderung nicht leichthin ändern und Zufallsentscheide möglich werden. Insofern wäre es durchaus denkbar, dass mit Blick auf die Repräsentanz der Parteien nur diejenigen Stellvertreterinnen und Stellvertreter aufgeboten werden, die zur gleichen Partei wie die verhinderten Parlamentsmitglieder gehören. Allerdings können sich die Mehrheitsverhältnisse auch dadurch ändern, dass ordentliche Abgeordnete aus ihrer Partei austreten oder einer anderen Partei beitreten. Die Verfassung sah in diesem Fall das bereits erwähne Korrektiv der Abberufung durch die Wählergruppe aus „wichtigen Gründen“ vor (Art. 47 Abs. 2 aLV in der Fassung vom 18. Januar 1939). Diese Bestimmung wurde 1997 aus den genannten Gründen aber aufgehoben. Die Verfassung gewichtet damit die personelle Stabilität in der Zusammensetzung höher als die Stabilität der parteipolitischen Zusammensetzung. Indem allein die personelle Zusammensetzung zum Zeitpunkt der Wahl massgebend ist, haben parteipolitische Änderungen - Parteiaustritte, Parteiübertritte, aber auch die Auflösung bestehender Parteien, die Gründung neuer Parteien oder die programmatische Neuausrichtung oder Umbenennung einer Partei - keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments. Die geltende Verfassung nimmt damit in Kauf, dass es im Landtag auch ohne Wahlen zu politischen Verschiebungen kommen kann. Gleichzeitig wird damit aber auch zum Ausdruck gebracht, dass es alleine dem Wahlvolk obliegt, im Rahmen der alle vier Jahre stattfindenden Wahlen, korrigierend einzugreifen. Dies entspricht dem demokratischen Grundgedanken, wonach es einzig am Wahlvolk selbst ist, dem „wahren“ Wählerwillen verbindlich Ausdruck zu verleihen.
8.
Im Rahmen der systematischen Auslegung ist Art. 49 Abs. 4 LV sodann mit Blick auf seine Stellung in der Verfassung und in Bezug zu anderen Normen zu betrachten.
8.1
Art. 57 Abs. 1 Satz 1 LV verankert den Grundsatz des freien Mandats: „Die Mitglieder des Landtags stimmen einzig nach ihrem Eid und ihrer Überzeugung“. Mit diesem Eid geloben die Mitglieder des Landtags „das Wohl des Vaterlandes ohne Nebenrücksichten nach bestem Wissen und Gewissen zu fördern“ (Art. 54 Abs. 1 LV).
8.1.1
Das freie Mandat stellt einerseits klar, dass Abgeordnete keinen externen Weisungen unterliegen und appelliert andererseits „mit dem Hinweis auf den von den Abgeordneten geleisteten Eid und ihre Überzeugung an diese Personen, sich bei ihrer Tätigkeit im Landtag an ihrer Einschätzung des allgemeinen Besten für das Land zu orientieren und nicht an blossen Parteirücksichten“ (Peter Bussjäger, a. a. O., Art. 47, Rz. 13). Es schützt damit die Mitglieder des Landtags auch vor ihrer Partei. Schliesslich haben Abgeordnete „[ihr] Mandat von [ihren] Wählern und nicht von einer Wählergruppe bzw. Partei“ (Herbert Wille, Die liechtensteinische Staatsordnung, Schaan 2015, S. 475) erhalten.
8.1.2
Zu den „Mitgliedern des Landtags“ zählen auch die stellvertretenden Abgeordneten. Wann ordentliche Abgeordnete und stellvertretende Abgeordnete nicht gleich zu behandeln sind, regelt die Verfassung nämlich anhand unterschiedlicher Terminologien (Christian Frommelt/Patricia M. Schiess Rütimann, Gutachten, a. a. O., S. 19 f.). Auch stellvertretende Abgeordnete haben bei Amtsantritt den Eid (Art. 54 Abs. 1 LV) zu leisten und auch für sie gilt der Grundsatz des freien Mandats.
8.1.3
Der Auffassung der Regierung, wonach die Geltung des freien Mandats für stellvertretende Abgeordnete einer „Vorauswirkung und Ausdehnung des Freien Mandats“ gleichkäme, kann nicht gefolgt werden. Die von der Regierung in ihrer Äusserung vom 2. Mai 2023 (unter Ziff. 5.4.3) zitierte Kritik von Patricia M. Schiess Rütimann (Parteiwechsel am Wahlabend, Jusletter 16. März 2009, Rz. 13) bezieht sich auf einen Parteiwechsel „am Wahlabend“ - vor der Vereidigung und somit vor Amtsantritt - und damit nicht auf eine vergleichbare Fallkonstellation. Vorliegend geht es um einen Parteiaustritt geraume Zeit nach der Wahl und Vereidigung. Ob ein Parteiaustritt im unmittelbaren Anschluss an die Wahl unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs anders zu beurteilen wäre, kann vorliegend offenbleiben (hierzu kritisch auch Anina Weber, Schweizerisches Wahlrecht und die Garantie der politischen Rechte, Zürich/Basel/Genf 2016, Rz. 905 ff.). Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass selbst in dem von Schiess Rütimann kritisierten Fall eines Parteiwechsels zwischen Wahl und Amtsantritt das schweizerische Bundesgericht zum Schluss kam, die politischen Rechte der Wählerschaft seien nicht verletzt worden. Das Bundesgericht hatte damals zu beurteilen, ob der Entscheid des St. Gallischen Kantonsrats, dem verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz des freien Mandats, der für Parlamentsmitglieder im Amt gelte, eine für die Zeit zwischen Wahl und Amtsantritt vorauswirkende Tragweite zu verleihen, mit den politischen Rechten der Wählerschaft zu vereinbaren war (BGE 135 I 19, Erw. 3.2 und 3.3, S. 23 f.). Es kam zum Schluss, dass ein Parteiwechsel vor Amtsantritt zwar „fragwürdig und der damit bewirkte Verlust an politischer Glaubwürdigkeit gross sein“ mag; dennoch sei er mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des direkten Wahlrechts vereinbar, da sich „unmittelbar aus den verfassungsmässigen politischen Rechten [...] keine höheren Anforderungen an die Zulassung zum Amtsantritt ableiten [lassen], als später während der Amtsausübung gelten. Immerhin stünde es dem kantonalen Gesetzgeber frei, eine Regelung über Konsequenzen zu erlassen für den Fall, dass ein gewählter Kandidat noch vor der Validierung der Wahl aus eigenen Stücken zu der Partei einer konkurrierenden Liste überwechselt. Eine derartige Vorschrift besteht hier nicht. Vor diesem Hintergrund hält es vor der Verfassung stand, dass der Kantonsrat die Wahl […] trotz des fraglichen Parteiwechsels als gültig eingestuft und […] die Amtsausübung erlaubt hat“ (BGE 135 I 19, Erw. 5.6, S. 27).
8.1.4
Indem einer Wählergruppe, Fraktion oder Partei Ermessen eingeräumt wird, ob sie stellvertretende Abgeordnete aufbietet oder nicht, wird die Freiheit dieser Mitglieder des Landtags „nach bestem Wissen und Gewissen“ (Art. 54 Abs. 1 LV) zu entscheiden, nach der allgemeinen Lebenserfahrung beeinträchtigt. Es ist davon auszugehen, dass sie in vorauseilendem Gehorsam der Meinung ihrer Wählergruppe, Fraktion oder Partei folgen. Es tritt ein sog. „chilling effect“ ein, der die Ausübung des freien Mandats beeinträchtigt.
8.2
Art. 53 LV sieht vor, dass für den Fall einer bleibenden Verhinderung eines Abgeordneten eine Ergänzungswahl stattzufinden hat, „falls nach dem Nachrückungssystem kein Ersatz geschaffen werden kann“. In diesem Fall rückt jene Person nach, die auf der jeweiligen Wahlliste unter den nicht gewählten Kandidaten am meisten Stimmen erhalten hat (Art. 63 Abs. 2 VRG). Somit rücken im Fall verbleibender Verhinderung zwingend zunächst die stellvertretenden Abgeordneten derselben Wählerliste in der Reihenfolge ihrer erhaltenen Stimmen nach. Es ist nicht ersichtlich, weshalb nicht auch im Fall einer vorübergehenden Verhinderung die stellvertretenden Abgeordneten zwingend nachrücken müssten.
8.3
Schliesslich ist festzuhalten, dass sich aus dem Anwesenheitsquorum in Art. 58 LV, entgegen der Auffassung der Regierung, nichts für die Teilnahmepflicht oder das Teilnahmerecht von Abgeordneten oder ihren Stellvertretern ableiten lässt. Wie bereits erwähnt, dient das Quorum in erster Linie der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Landtags.
9.
Eine mit dem Parteiaustritt einhergehende Beschränkung der Mandatstätigkeit ist nicht zuletzt auch hinsichtlich der Anforderungen der EMRK kritisch zu betrachten. Art. 3 1. ZP EMRK garantiert das Recht, ein Mandat auszuüben. Das Recht gilt nicht absolut, verpflichtet die Mitgliedstaaten aber, einen gesetzlichen Rahmen einzurichten, um ihren Verpflichtungen unter der Konvention und im Besonderen Art. 3 1. ZP EMRK nachzukommen (Martin Nettesheim, Prot. Nr. 1, Art. 3, Rz. 27, in: Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan Raumer [Hrsg.], EMRK Handkommentar, 5. Aufl., Baden-Baden 2023; EGMR, Paunovic und Milivojevic gg. Serbien, Nr. 41683/06, Urteil vom 24. Mai 2016, §§ 58 und 61).
9.1
Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das Urteil des EGMR zu Paunovic und Milivojevic gegen Serbien (a. a. O.). Der Gerichtshof hatte zu entscheiden, ob ein vom Parlamentsausschuss festgestellter Mandatsverlust aufgrund eines Parteiaustritts mit Art. 3 1. ZP EMRK vereinbar war. Im Vordergrund stand das serbische Gesetz über die Wahl der Parlamentsmitglieder, das ursprünglich eine Bestimmung enthielt, nach der das Mandat eines gewählten Parlamentariers endete, wenn die Person aufhörte, ein Mitglied der politischen Partei oder Koalition zu sein, über deren Kandidatenliste er oder sie gewählt worden war. Vor dem Hintergrund, dass diese Bestimmung durch das serbische Verfassungsgericht 2003 mit der Begründung aufgehoben wurde, dass die Parlamentarier ein Mandat des Volkes und nicht ihrer Partei besitzen würden, sah der EGMR keinen Grund, um eine unterschiedliche Auslegung vorzunehmen (EGMR, Paunovic und Milivojevic gg. Serbien, a. a. O., § 63).
9.2
Die Fallkonstallation im Urteil Paunovic und Milivojevic gegen Serbien (a. a. O.) kann nicht ohne weiteres mit der vorliegend zu beurteilenden Frage gleichgesetzt werden. Das Urteil unterstreicht aber, dass die Mitgliedstaaten der EMRK aufgerufen sind, dem in der EMRK verankerten Recht auf freie Wahlen im Rahmen der nationalen Verfassungs- und Gesetzgebung zum Durchbruch zu verhelfen und konkrete Konturen zu verleihen. Dies tat auch Liechtenstein, indem es 1997 und damit im Nachgang zum Inkrafttreten des 1. ZP EMRK (1995) das Abberufungsrecht zur Gewährleistung des freien Mandats i. S. v. Art. 57 Abs. 1 LV abschaffte (BuA Nr. 168/1996, Anhang III, S. 1; vgl. auch Peter Bussjäger, a. a. O., Art. 47, Rz. 12 f.). Ein freies Ermessen der Wählergruppe, das im Ergebnis ein Abberufungsrecht für stellvertretende Abgeordnete wieder einführen würde, ist vor diesem Hintergrund auch mit der EMRK nicht vereinbar.
10.
In Anbetracht dieser Überlegungen erübrigt es sich, auf das Begehren der Regierung näher einzugehen, wonach der Staatsgerichtshof feststellen solle, dass eine im Landtag vertretene Wählergruppe bzw. Fraktion einen Stellvertreter, der aus dieser Wählergruppe bzw. Fraktion ausgetreten sei, nicht mehr verfassungskonform zur Teilnahme an einer Landtagssitzung in Stellvertretung eines ihrer Abgeordneten bezeichnen könne. Dem Staatsgerichtshof kommt im Rahmen der Individualbeschwerde nach Art. 15 Abs. 3 StGHG einzig die Aufgabe zu, die Vereinbarkeit der angefochtenen Norm mit höherrangingem Recht zu prüfen. Es steht ihm nicht zu, darüber hinaus die Verfassungskonformität bestimmter tatsächlicher Verhaltensweisen zu beurteilen und festzustellen.
11.
Der Staatsgerichtshof gelangt daher zusammenfassend zu folgendem Schluss:
11.1
Massgebend für die Zusammensetzung des Landtags ist allein der demokratisch geäusserte Wählerwille, der verbindlich alle vier Jahre kundgetan wird. Seit der Streichung des Abberufungsrechts durch die Wählergruppe im Jahr 1997 gibt es keine Möglichkeit mehr, auf Partei- oder Fraktionsaustritte korrigierend zu reagieren und die personelle Zusammensetzung des Landtags vor Ablauf der regulären Amtsdauer zu ändern.
11.2
Im Lichte des passiven Wahlrechts, welches durch Art. 29 LV gewährleistet (und insbesondere durch die Verfassungsbestimmungen des V. Hauptstücks der Landesverfassung näher ausgeformt) wird, lässt sich eine Ungleichbehandlung von Abgeordneten und ihren Stellvertretern mit Blick auf ihre Zugehörigkeit zum Landtag, ihr Teilnahmerecht - beschränkt auf den Stellvertretungsfall - und ihr freies Mandat nicht begründen. Bei ordentlichen Abgeordneten ist unbestritten, dass sie auch bei einem Parteiaustritt oder Parteiwechsel nicht ausgeschlossen werden dürfen. Es ist nicht ersichtlich, dass dies bei Stellvertretern anders sein sollte. Indem der Einsatz von stellvertretenden Abgeordneten dem Ermessen einer Wählergruppe anheim gestellt wird, wird somit das passive Wahlrecht dieser Abgeordneten verletzt.
11.3
Aus all diesen Gründen gelangt der Staatsgerichtshof zum Schluss, dass Art. 23 Abs. 2 der Geschäftsordnung für den Landtag des Fürstentums Liechtenstein vom 19. Dezember 2012 (GOLT), LGBl. 2013 Nr. 9 i. d. F. v. LGBl. 2022 Nr. 410, gegen verfassungsmässig und durch die EMRK gewährleistete Rechte der Beschwerdeführerin verstösst. Art. 23 Abs. 2 GOLT ist daher spruchgemäss als verfassungs- und EMRK-widrig aufzuheben und der Individualbeschwerde Folge zu geben.
12.
Der Beschwerdeführerin sind die in ihrem Kostenverzeichnis vom 4. September 2023 verzeichneten Rechtsvertretungskosten antragsgemäss zuzusprechen. Da im Individualbeschwerdeverfahren vor dem Staatsgerichtshof nach ständiger Praxis des Staatsgerichtshofes (StGH 2020/076, Erw. 8; StGH 2019/035, Erw. 5; StGH 2018/071, Erw. 4 [alle www.gerichtsentscheide.li]) die Gerichtsgebühren von der obsiegenden Partei nicht zu tragen sind, sind der Beschwerdeführerin die mit Valuta vom 5. April 2023 bereits an die Landeskasse geleisteten Gerichtsgebühren von CHF 1‘700.00 zurückzuerstatten.